Tobias Ginsburg: Die Reise ins Reich. Unter Reichsbürgern Im Land der Aufgewachten

Sachliteratur

Hat sich die ganze Welt gegen das deutsche Volk verschworen? Eine Reportage versucht, hinter die Fassade einer brandgefährlichen rechten Szene zu blicken.

Reichsbürger Rüdiger Hoffmann und Helmut Buschujew vor dem Reichstag in Berlin bei einer Demonstration für eine neue Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland, Oktober 2014.
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Reichsbürger Rüdiger Hoffmann und Helmut Buschujew vor dem Reichstag in Berlin bei einer Demonstration für eine neue Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland, Oktober 2014. Foto: SSLreporter (CC BY-SA 4.0 cropped)

25. November 2020
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Regierungen und Banken kommen nicht ohne einander aus. Das weiss auch Peter Fitzek, das selbsternannte Oberhaupt des sogenannten „Königreich Deutschland“. Um die Geldpolitik seines Landes in den Griff zu bekommen, eröffnet er Anfang September die erste Bankfiliale seines Fantasielandes.

Bevor man über den stümperhaften PR-Gag eines Spinners lacht, sollte man hier jedoch genau hinsehen. Peter Fitzek ist Teil der Reichsbürgerszene, einer heterogene Gruppe aus alternativ lebenden Menschen, Esoteriker*innen, Verschwörungstheoretiker*innen, Identitären, Neonazis und sogenannten Selbstverwaltern. Doch um was für Leute handelt es sich hier eigentlich? Dieser Frage geht der Theatermacher Tobias Ginsburg in seiner 2018 erschienen Reportage „Die Reise ins Reich – Unter Reichsbürgern“ nach und begibt sich undercover in die deutsche Reichsbürgerszene.

Willkommen im Reich

Circa 19.000 Personen werden vom Verfassungsschutz zur Reichsbürgerszene gezählt; davon sind 950 rechtsextrem. Lange Zeit wurde die Szene von den deutschen Behörden wenig beachtet. Erst nachdem 2016 vier Polizisten in Georgensgmünd von einem Reichsbürger angeschossen wurden und einer der Beamten später seinen Verletzungen erlag, änderte sich der Blick auf die Reichsbürger. Von da an nahm man sie als veritable Gefahr wahr und versuchte Strukturen aufzudecken und zu verstehen.

Den ideologischen Kern dieser Szene fasst Tobias Ginsburg im Anschluss an seine investigative Recherche wie folgt zusammen: „Ich war in einem Reich, das es nicht gibt und niemals gab und in dessen Zentrum eine Verschwörungstheorie steht: Die Bundesrepublik ist kein souveräner Staat, die Deutschen sind Opfer einer weltweiten Verschwörung.“ (S. 10) Was diese heterogene Gruppe also eint, ist die Ablehnung der Bundesrepublik Deutschland als souveräner und legitimer Staat.

Ginsburgs erste Station auf seiner „Reise“ ist das damals noch existierende „Königreich Deutschland“, der von Peter Fitzek gegründete Fantasiestaat auf einem früheren Krankenhausgelände in der Lutherstadt Wittenberg. Fitzek sass damals wegen Verkehrsdelikten und Veruntreuung von Geldern in Haft und das Gelände war von polizeilicher Räumung bedroht. Ginsburg trifft hier auf eine tief resignierte Gemeinschaft. Es ist eine obskure Szene, in der es von Verschwörungserzählungen nur so wimmelt. Auf den ersten Blick leben hier vor allem „ältere Herrschaften in bunten Funktionsjacken, fusselige Öko-Typen, kleinbürgerliche Flanellhemdträger und noch mehr erstaunlich, entsetzlich normal aussehende Leute.“ (S. 26) Doch sie alle zählen sich zu den Aufgewachten.

Aufgewacht

Die Vorstellung davon, aufgewacht zu sein, findet sich immer wieder unter Personen mit Verschwörungsmentalität. Der Grossteil der Menschheit verhalte sich der Erzählung nach wie Schlafschafe oder auch sheople, dumm, naiv und blind gegenüber der grossen Weltverschwörung. Nur die wenigen Aufgewachten durchschauten das schreckliche Spiel. Wie so eine Verschwörung aussieht, kann mitunter sehr diffus ausfallen:

Johannes erzählt vom Kampf gegen die Dunkelwelt, von pechschwarzen Eliten, die wir wegen unserer Eigenschaften als Lichtwesen […] nicht erkennen könnten. Dreitausend Kinder würden jedes Jahr in Deutschland verschwinden. […] und er spricht von geheimen Ritualen, von Missbrauch, Vergewaltigung und Aderlass, Kinderschreien und durstigen Illuminaten und Blutmagiern, Mitgliedern von Hochfinanz und Wirtschaft, und sie löschen ihren Durst mit dem Blut unschuldiger deutscher Kinder.“ (S. 45)

Wem das nun vollkommen irre erscheint, sollte bedenken, dass laut einer Autoritarismus-Studie der Universität Leipzig 40 Prozent aller Deutschen zu Verschwörungsmentalität neigen. Die Verschwörungserzählungen bieten hier einfache Erklärungen für komplexe gesellschaftliche Verwerfungen. In Zeiten von globalen Krisen suchen Menschen nach Sicherheit, Ruhe und Stabilität.

Mit jedem Gespräch, das der Autor in der eingeschworenen Wittenberger Gemeinschaft führt, reiht sich eine haarsträubende Story an die andere: „Die Protokolle der Weisen von Zion“ seien ein wissenschaftlich ernstzunehmendes Theoriefundament, der Holocaust wird geleugnet, der 11. September sei eine von den USA fingierte Aktion gewesen und Xavier Naidoo ist ein toller Sänger. Um es zusammenzufassen: Antisemitismus, Antimodernismus, Antifeminismus und Rassismus sind sinnstiftend für das Weltbild der Reichsbürger.

Rundreise

Nachdem das Krankenhausgelände in Wittenberg geräumt ist und das „Königreich Deutschland“ auseinanderfällt, konzentriert Ginsburg seine Nachforschungen auf andere Personen und Gruppen, die den Reichsbürgern nahe stehen. Er gibt sich als Journalist der alternativen Szene aus und berichtet im weiteren Verlauf des Buches vom Besuch rechter Veranstaltungen und Esoterikmessen und von seinen Interviews und Gesprächen mit Verschwörungstheoretiker*innen und Holocaustleugner*innen. Das bringt wenig neue Erkenntnisse, um die Reichsbürger zu verstehen. Aber es macht deutlich, dass es sich hier um eine Szene handelt, die deutschlandweit agiert. Es handelt sich hier nicht um versprengte Einzelfälle.

Jedoch merkt man dem Buch nun ein wenig die konzeptionelle Unschärfe an. Viele Überlegungen und Entscheidungen wurden on the go getroffen. Es wird nicht immer klar, wohin die Reise gehen soll. So mag man verstehen, warum Ginsburg sich nach Wittenberg begibt, um dort Informationen aus erster Hand zu sammeln. Später versucht er dann wiederholt, ein Interview mit dem ex-Linken und heutigen Herausgeber des Compact-Magazins Jürgen Elsässer zu führen.

Dazu kommt es zwar nie, aber Ginsburg reist Elsässer auf dessen Veranstaltungen hinterher wie eine Art perverser Fanboy. Hier wird die Sache etwas bedenklich: Stilisiert der Autor den rechten Publizisten als Gallionsfigur? Dabei ist gerade eine der gefährlichen Qualitäten der Rechten, dass sie „vernetzt, aber kein Netzwerk“ (S. 186) ist, wie es der Autor selbst formuliert. Es gibt unterschiedliche politische Ausprägungen, aber man schlägt sich über die Differenzen nicht mehr die Köpfe ein, sondern agiert auf unterschiedlichen Ebenen von der Parteiarbeit der AfD bis zur Militanz der Nordkreuz-Gruppe. Da ist auch Elsässer ein Rad im Getriebe, eines von vielen.

Bei aller Kritik, die Tobias Ginsburg formuliert und aller Abscheu, die er für einzelne Personen der Szene zeigt, erliegt er teilweise einer Faszination für rechte Strukturen. So zum Beispiel, wenn er nach der Anerkennung von Jürgen Elsässer und anderen sucht. Diffus bleibt am Ende auch das Bild über die Reichsbürger. Was seine Reportage jedoch bietet, ist ein unvermitteltes und erschreckendes Panorama rechtsradikaler Ideologie und Menschenfeindlichkeit, in dem alle rechts sind, aber niemand der Nazi sein will.

Sascha Kellermann
kritisch-lesen.de

Tobias Ginsburg: Die Reise ins Reich. Unter Reichsbürgern. Das Neue Berlin, Berlin 2018. 272 Seiten, ca. 22.00 SFr. ISBN: 978-3360013316

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